Bibliotheken und gute Buchhandlungen sind eine ‚Hall of Fame‘ für Bücher aus der Feder der Weisen, Freiheitsliebenden und Whistleblower aller Zeiten. Jene haben ihr eigenes Leben für die Wahrheit und für das Leben anderer Menschen hingegeben. Ihre Worte, manchmal erst später von Nahestehenden niedergeschrieben, überdauern die Jahrzehnte, Jahrhunderte und Jahrtausende.
Die unbequemsten aller Bücher sind nicht querulantische, den Mief schlechter Laune verbreitende, von chronischer Unzufriedenheit mit allen Umständen und Bedingungen vergiftete. Sie erschöpfen sich nicht in haltlosen Anklagen und Schuldzuweisungen, und beinhalten weder Unfrieden stiftende, noch Spaltung erzeugende destruktive Texte. Sie lähmen nicht, und machen niemals mutlos. Es durchzieht sie keine eitle Selbstbezogenheit, und sie triefen auch nicht von Selbstmitleid. Diese ewig-unbequemen Bestseller wurden nicht designt, um Verkaufsgewinn aus schnellproduziertem Junkfood zu erzielen. Sie füttern nicht vorübergehend jene Gemütskräfte, die von ständig neuer Ablenkung und Unterhaltung abhängig sind, sondern bieten dem Herzen des Lesers konsistente lebendige Nahrung. Sie ernähren – und sind doch gleichzeitig unbequem, weil wir sie Wort für Wort kauen, verdauen und assimilieren müssen, um von ihrem wertvollen Gehalt tatsächlich voll zu profitieren. Wir werden durch sie herausgefordert: Unsere bisherige Perspektive wird beim Lesen kraftvoll in Frage gestellt und nachhaltig verändert, wenn wir uns wirklich einlassen.
Nichts hat so viel Kraft, wie Gottes Wort:
„Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.“1
https://www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/lesen/LU17/JHN.15/Johannes-15
Der fünfte Vers im 15. Kapitel des Johannes-Evangeliums hat zweifellos die Macht, eine komplette Umwendung (Metanoia) zu bewirken.
In seinem Buch „Kontemplative Exerzitien“ schreibt Franz Jalics im Kapitel „Die siebte Zeit“ über die Ausrichtung auf Gott. Der Abschnitt 2 trägt die Überschrift „Die Reben und ihr Leistungsdruck“:
„Sehr oft lenkt uns unser Leistungsdruck vom Ausgerichtetsein auf Gott ab. Im Evangelium beschreibt Jesus seine Beziehung zu den Aposteln mit dem Bild des Weinstocks (vgl. Joh 15,1.8). Er verkörpert den Weinstock, die Apostel die Reben. Die Reben, die Früchte tragen, werden vom Winzer, d.h. von seinem Vater gereinigt. Die Reben aber, die keine Früchte bringen, werden abgeschnitten. Der eigentliche Kern des Bildes stellt die Notwendigkeit des Ausgerichtetseins auf Jesus dar.
Was ist die Aufgabe der Reben? Sie müssen Weintrauben hervorbringen; daher lenken sie ihre ganze Kraft in die Produktion von Trauben. Sie befürchten, daß sie nicht rechtzeitig genügend Früchte tragen. Sie machen sich Sorgen um ihr Überleben. Aus dieser Angst stürzen sie sich auf das Erzeugen der Trauben, was einen gewaltigen Leistungsdruck mit sich bringt. Unter diesem Druck beschäftigen sie sich Tag und Nacht mit ihren Früchten. Im Winter, wenn das Problem noch gar nicht aktuell ist, planen sie schon ihre Trauben. Sie stellen sich hunderte Male vor, wie die Trauben sein müssen, wie sie besser und schneller wachsen und süßeren Saft produzieren können. Und wenn sich bereits die ersten Früchte bilden, versuchen sie mehr Saft in sie hineinzuleiten. Sie vergleichen ihre Früchte mit den Trauben anderer Reben und reden sich ein, die Trauben der anderen Reben seien schon größer. Sie klagen, daß es schon lange nicht geregnet hat und sie deswegen ihren Beeren nicht genügend Saft zufließen lassen können. Dann messen sie sich wiederum mit den Nachbartrauben und protestieren, daß die Sonne scheinbar nur auf die anderen scheint. Je mehr sie um ihre Früchte bangen, je mehr sie um ihre Probleme kreisen, je mehr sie sich bemühen, mehr Flüssigkeit in ihre Früchte zu pressen, um so weniger Lebenskraft fließt in die kleinen Trauben.
Jesus ist einverstanden, daß die Trauben wachsen müssen. Jesus sieht, wie sich die Reben besorgt, angstvoll und problembeladen unter Druck setzen und wie sie sich in eine falsche Richtung abquälen. Der Sinn des Gleichnisses ist, den Reben zu sagen: >>Halt! So geht es nicht! Kehrt euch um 180 Grad um! Statt euch auf eure Trauben zu konzentrieren, verbindet euch mit dem Weinstock! Dann wird die Kraft des Weinstocks durch euch fließen, und ihr werdet reiche Frucht hervorbringen. Dabei werdet ihr auch von eurem Leistungsdruck, von eurem Zwang, euch zu vergleichen, und von euren Spannungen Jalics, Franz: Kontemplative Exerzitien: Eine Einführung in die kontemplative Lebenshaltung und in das Jesusgebet, 10., Würzburg, Deutschland: Echter Verlag, 2006, S. 260f verbindet euch mit dem Weinstock! Bleibt mit allen euren Sinnen und mit ganzer Kraft bei ihm. Er sorgt für reiche Frucht. Ihr seid so mit euch selbst befaßt, daß ihr nicht merkt, wie eure Verbindung mit dem Weinstock schon längst unterbrochen ist und keine Lebenskraft mehr in euch fließt. Wendet euch eurer Quelle zu, und alles wird euch geschenkt. […]<<“2
Ein Wort des Advaita-Meisters Mooji fasst das Weinstock-Gleichnis in einem Satz zusammen: "You don’t have to always transcend. You can also just be nothing."3 Wenn ich in seinem Buch "White Fire" lese, welches 2020 in der zweiten Auflage erschienen ist, spricht tatsächlich alles zu mir vom Weinstock-Gleichnis. "Acclimatise your mind to Heart. Mind’s true home ist the Heart."4
Von Sri Ramana Maharshi stammt das Zitat "You need not aspire for or get any new state. Get rid of your present thoughts, that is all."5 Auch seine Worte: "Concentrate on the Seer, not on the seen."6 beschreiben den Perspektivenwechsel des Weinstockgleichnisses… Dass diese Bücher zu mir gelangt sind, erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit.
Wenn ein Wortwerk der Unterhaltungsliteratur darauf abzielt, im Leser eine Leere zu füllen, entkommt er – zumindest zeitweise, für den Zeitraum der Lektüre – einem ihm möglicherweise unbewussten oder sogar als unangenehm empfundenen Gefühl des Mangels. Das textliche Angebot ist unter Umständen gut dazu geeignet, seine Phantasie anzuregen, Erinnerungen zu erwecken, gedankliche und gefühlsmäßige Projektionen zu befördern, und anderes mehr. Der Leser lässt sich hinein nehmen in eine Welt, die der Autor zeichnet, und die sich dann in seiner eigenen Vorstellungswelt mehr oder weniger lebhaft widerspiegelt. Was danach geschieht, ist nicht vorhersehbar, denn es ist bei jedem und in jeder Situation unterschiedlich. Wir alle betrachten die Welt in unserer jeweils eigenen und einzigartigen Leseart… Durch jedes Buch können unglaubliche Wunder geschehen, aber es kann andererseits auch sehr schnell zur Seite gelegt werden, und in Vergessenheit geraten.
Manche Schriften führen den Leser ganz bewusst aus seinem diskursiven Gedankenstrom zunächst in eine (ihm möglicherweise noch unbekannte) Erfahrung eines „Nichts“ – das in Wahrheit unerschöpfliche Fülle ist. Er wird in eine Art von innerer Wüstenerfahrung begleitet. Durch Texte, die weitestgehend als Spiegel dienen, wird ihm geholfen, den Betrachter-Standpunkt zu entdecken. Im Zeugen-Bewusstsein bekommt er eine natürliche Distanz zu dem, was sich auf der Bühne seiner inneren und äußeren Welt abspielt, und findet zur inneren Quelle zurück – der Verbindung mit dem Weinstock.
„Es hört doch jeder nur, was er versteht.“ Dies ist ein bekanntes Zitat von Johann Wolfgang von Goethe aus seinen „Maximen und Reflexionen“.7
Wir erkennen etwas uns schon Verfügbares wieder, wenn wir beim Hören, Lesen oder Schauen verstehen.8 Im Herzen, in der natürlichen Weinstock-Verbindung, sehen wir nicht aus der Ego-Perspektive. Hat unser Verständnis irgendwelche Grenzen? „Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht an mir bleibt.“9
Ein Rilke-Gedicht aus dem Stunden-Buch (Erstes Buch, Das Buch vom mönchischen Leben) spricht in der letzten Strophe ein Lesen an, das Bleiben ist – ein In-Verbindung-Bleiben mit dem Wort am Übergang von der Form in die Formlosigkeit. Rilke, der Dichter, erfährt sich selbst in seinem Schreiben als mit der Quelle verbunden: Die Frucht der „sieben Seiten“ wird nicht von ihm selbst hervorgebracht.
„Du dunkelnder Grund, geduldig erträgst du die Mauern.
Und vielleicht erlaubst du noch eine Stunde den Städten zu dauern
und gewährst noch zwei Stunden den Kirchen und einsamen Klöstern
und lässest fünf Stunden noch Mühsal allen Erlöstern
und siehst noch sieben Stunden das Tagwerk des Bauern –:
Eh du wieder Wald wirst und Wasser und wachsende Wildnis
in der Stunde der unerfaßlichen Angst,
da du dein unvollendetes Bildnis
von allen Dingen zurückverlangst.
Gib mir noch eine kleine Weile Zeit: ich will die Dinge so wie keiner lieben,
bis sie dir alle würdig sind und weit.
Ich will nur sieben Tage, sieben,
auf die sich keiner noch geschrieben,
sieben Seiten Einsamkeit.
Wem du das Buch gibst, welches die umfaßt,
der wird gebückt über den Blättern bleiben.
Es sei denn, daß du ihn in Händen hast,
um selbst zu schreiben.“10
Was Rilke mit „Du dunkelnder Grund“ anspricht: Die Stille des Da-Seins, die Stimme ohne Worte – sie weist über das Sagbare und jede Form hinaus. „Da gibt es eine Stimme, die keine Worte benutzt – höre ihr zu.“11, schrieb der persische Dichter und Mystiker Rumi.
„ICH BIN“ ist der wahre Weinstock. Jesus Christus spricht ohne Worte, durch reine Gegenwart, und er hat Gleichnisse aus der Natur erzählt, die genauso lebendig sind, wenn wir sie lesen, wie damals, als seine Schüler sie aus seinem Munde hörten.
„Gebückt über den Blättern“: Rilke schreibt „vom mönchischen Leben“.
Zu allen Zeiten haben Menschen sich zum Lesen an ruhige Orte zurückgezogen.
In der monastischen Tradition folgt auf die Lectio divina die Meditatio, die Oratio und Contemplatio.
Die Meditation wird auch Ruminatio genannt – Martin Luther spricht vom „Wiederkäuen im Herzen“.12
Oratio bedeutet Gebet. „Wäre das Wort ‚Danke‘ das einzige Gebet, das du je sprichst, so würde es genügen.“13, sagt Meister Eckart.
Die Kontemplation können wir nicht ‚machen‘ – sie hat etwas mit Gnade zu tun, mit Gottes Wirken in uns, dem Fließen Seiner Kraft.
Wenn ich lese „ich will die Dinge so wie keiner lieben“, dann verstehe ich das nicht so, dass der Dichter-Mönch sich vergleicht, und ein Übersteigen im Sinne eines Mehr-als-alle-anderen meint. „So wie keiner“: Eher im Sinne von „You don’t have to always transcend. You can also just be nothing.“ (s.o.).
Gott hat ihn in Händen und hält ihn, um selbst mit dieser EINEN Liebe sein Bildnis in der Schöpfung zu vollenden.
Der Rebzweig kann nur Frucht bringen, weil er am Weinstock gehalten wird.
1 Johannes 15 - Lutherbibel 2017 (LU17) - die-bibel.de: o. D., [online] https://www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/lesen/LU17/JHN.15/Johannes-15 (abgerufen am 14.01.2023). Vers 5.
2 Jalics, Franz: Kontemplative Exerzitien: Eine Einführung in die kontemplative Lebenshaltung und in das Jesusgebet, 10., Würzburg, Deutschland: Echter Verlag, 2006, S. 260f.
3 White Fire: Spiritual Insights and Teachings of Advaita Master MOOJI: 2., Vereinigtes Königreich: Mooji Media Ltd, 2020, S. 259.
4 Ebd., S. 327.
5 Venkataramiah, Munagala: Talks with Sri Ramana Maharshi: Three Volumes in One, Sri Ramanasramam, Tiruvannamalai (Hrsg.), 10. Reprint, Tiruvannamalai 606 603, Indien: Sri Ramanasramam, Tiruvannamalai, 2000. 15th March, 1938: Talk 472.
6 Narain, Laxmi: Face To Face With Sri Ramana Maharshi : Enchanting and Uplifting Reminiscences of 202 persons, 2., Hyderabad 500 013, Indien: Sri Ramana Kendram, 2009, [online] http://www.sriramanamaharshi.org/wp-content/uploads/Downloadable/English/Face_to_Face_with_Sri_Ramana_Maharshi.pdf.
Reminiscence 197, S. 404.
7 https://ia800209.us.archive.org/18/items/goethemaximenun00goetgoog/goethemaximenun00goetgoog.pdf
8 Vgl. https://books.google.de/books/content?id=4uZzIPmpwqYC&hl=de&pg=PA45&img=1&zoom=3&bul=1&sig=ACfU3U2pxxaf4ZrFgC2M0rbYc4YChpxdQA&w=1280 Lange, Victor: Bilder, Ideen, Begriffe: Goethe Studien, in: Google Books, o. D., [online] https://www.google.de/books/edition/Bilder_Ideen_Begriffe/4uZzIPmpwqYC?hl=de (abgerufen am 14.01.2023).
9 Johannes 15 - Lutherbibel 2017 (LU17) - die-bibel.de: o. D., [online] https://www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/lesen/LU17/JHN.15/Johannes-15 (abgerufen am 14.01.2023). Vers 4.
10 https://www.gutenberg.org/files/24288/24288-h/24288-h.htm
11 https://www.zitate-und-sprichwoerter.com/rumi
12 https://www.kloster-bursfelde.de/BETEN/ruminatio
13 https://www.heiligenlexikon.de/BiographienE/Meister_Eckhard_Eckart.htm