Stimmigkeit ist kein Gedanke - Autorin Karin Lühr - Newsletter August 2023

Stimmigkeit ist kein Gedanke - Autorin Karin Lühr - Newsletter August 2023

Stimmigkeit ist kein Gedanke (und auch kein Gefühl)

Jeder weiß: Es kommt immer auf den Tonfall an. Ein vollmundiges „Das stimmt nicht!“ im Brustton der Überzeugung: Hat es seinen Stimmsitz wirklich im Herzen? Drückt sich in dieser heftigen Zurückweisung von anderslautenden Meinungsäußerungen nicht lediglich ein einziger Standpunkt aus, nur eine von vielen möglichen Perspektiven, womit im selben Atemzug allen anderen ihre Berechtigung abgesprochen wird? Ob mit oder ohne Beweis: Wer mit Bestimmtheit seinen Betrachtungswinkel für absolut wahr erklärt, sieht sich selber als „Haupt“ an – das Wort ‚Behauptung‘ enthält die sprachliche Veranschaulichung dieses Aspekts.

 

Wir hören einen Jemand sehr schwergewichtig sagen: „Das finde ich nicht stimmig!“ – und unser unverbildetes ‚inneres Kind‘ reagiert im selben Moment mit Fluchttendenz: Hilfe! Nichts wie weg … 

 

Ist Dir so was schon mal passiert? 

 

Intuitiv bist Du gewarnt, dass die konzeptuell aufgeladene Situation nun droht, recht kompliziert zu werden. Das Wort „ich“, welches wir eben gehört haben, ist nämlich nicht ‚federleicht‘, sondern ist ‚voll beladen‘ mit dem Vergleich, den die sprechende Person unbewusst zieht zwischen ihren Projektionen (das heißt: wie sie persönlich es in dem Fall gerne hätte; wie sie glaubt, dass es sein müsste für eine Gruppe oder die ganze Welt) und dem, was die im Grunde nach allen Seiten hin offene Situation darbietet. 

 

Dieses wuchtige Ich-Wort kann unter Umständen auch die volle Dogmenfracht jener ‚Institution‘ tragen, für deren Botschaft der Redner lediglich ein Sprachrohr ist. Er nimmt diesen Posten ein und identifiziert sich damit, weil er (oder sie natürlich) sich dort aufstellen ließ für ein scheinbar alternativloses Projekt. Das einmal verinnerlichte Programm vor Augen folgt die Person ebendiesem, durch strikte Weisung an Geschäfteplaner gebunden, die – evtl. auf Umstände verweisend – kein Innehalten gewähren. Wo somit noch Gelegenheit, Gewissensregungen zu vernehmen, entdeckungsfreudigen Dialog auch mit der äußeren Natur zu halten als weiterem wichtigem Hinweis-Geber oder vorurteilsfreien zwischenmenschlichen Austausch zu pflegen, wenn den gesetzten Deadlines für Etappenziele angsterfüllt hinterhergehastet werden muss?

 

Die Übereinstimmung unentwegt weiterpropagierter Leitsätze (welche den aggressiven Anspruch erheben, zielführend zu sein) mit der intuitiven Stimme im Spiegel von Gottes Wort kann vom geistig ‚Angestellten‘ nicht mehr hinterfragt werden, denn er steht in der Schlange der anderen Probanden der Macht, die ihn von hinten weiterdrängen. Das festgeschriebene Ziel darf ohnehin nicht infrage gestellt werden und jegliche Abweichung von der vorgegebenen Marschroute wird sanktioniert: Direktiven und (Durchsetzungs-)Mittel werden auf eine Weise gehandhabt, dass alle Aufmerksamkeit nur noch auf die übernommenen Vorstellungen fokussiert werden kann. Dass sie den freien Blick auf die Wahrheit verstellen, weil sie mental davorgestellt wurden, fällt nur auf, wenn der Einzelne durch unvorhersehbare Ereignisse aus dem Konzept gebracht wird. Etwas ‚kommt dazwischen‘; schlussendlich Einhalt gebietend, schlägt eine Einsicht ein wie ein Blitz und zersprengt unsere alteingefahrenen Gedankengänge und Gewohnheitshandlungen: Gott sei Dank! 

 

„Das ist mir ganz ganz wichtig …“: Solche Worte können sich im Übermaß ‚bedeutsamkeitsschwer‘ anhören, sodass (wenn Verschaltungen im Kopf nicht modifizierend eingreifen und die Aktivierung unserer Beinmuskeln hemmen würden) sich unter Umständen wieder zumindest ein Ansatz von Weglaufverhalten zeigte. Ein neutraler Beobachter würde höchstwahrscheinlich die Anspannung bemerken und gewahr werden, dass die spontane Reaktion desjenigen, der diesen Satzanfang hört, näheres Interesse an den spezifischen Vorlieben des Gesprächspartners (oder dessen Vorgesetztem) vermissen lässt, gerade weil sie von Letzterem für dermaßen ‚besonders‘ erachtet werden.

 

Warum sind Friedensgespräche so schwierig? Warum gibt es Spaltungstendenzen? Weshalb kommt der Wunsch, dem jeweils ‚anderen‘ ausdauernd und mit zunehmendem Verständnis zuzuhören, um anschließend in Harmonie zu handeln, in solcherart zugespitzten Situationen nicht wirklich auf? Eine naheliegende Deutungsmöglichkeit wäre, dass ausgeprägtere Selbstbezogenheit beziehungsweise Indoktrination naturgemäß wenig geeignet ist, dieses eigentlich natürlich vorhandene Herzensbedürfnis im Zuhörer oder Gesprächspartner zu wecken. 

 

Egal. Ich lasse die Fragen lieber unbeantwortet stehen und gehe der Erfahrung nach, wie sich unabhängig von solchen (verbalen) Alltagserlebnissen die Heilkraft der Tier- und Pflanzenwelt erschließen lässt.

 

In der Natur, einschließlich dem, was unserer eigensten wahren Natur entspricht, gibt es diese konflikthafte Konfrontation von persönlich geprägten Sichtweisen nicht. Sie ist unser Erholungsort von allen Problemen, weil sie die Kraft hat, uns in die Verbindung mit uns selber zurückzuholen, wo wir ganz natürlich mit allem verbunden sind. Dort können wir ‚Stimmigkeit‘ wieder direkt wahrnehmen.

 

Der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick spricht von ‚Stimmigkeit‘ als „harmonischem Einssein mit der Welt“. Sein Kollege Friedemann Schulz von Thun erwähnt in der von ihm entwickelten Kommunikationspsychologie das Kriterium der „doppelten Übereinstimmung“ im Sinne eines In-Einklang-Stehens sowohl mit der Innen- als auch mit der Außenwelt. Seiner Definition folgend „bezeichnet Stimmigkeit eine ebenso situationsgerechte wie authentische Kommunikation. Das heißt, eine Person verhält sich dann stimmig, wenn ihr Verhalten sowohl dem Charakter der Situation angemessen ist als auch wesensgemäß und echt. […] Um herauszufinden, was situationsgerecht ist, wird er Blick nach außen gerichtet, auf den situativen Kontext: […] Um herauszufinden, was authentisch ist, richtet sich der Blick nach innen, auf den inneren Kontext der kommunizierenden Person: […]“1

 

Nach C. G. Jung verfügt der Mensch über vier Bewusstseinsfunktionen, mit denen er jeweils seine Außen- und Innenwelt ‚abtastet‘ und welche zwischen beiden Welten vermitteln:

 

  • Empfinden (Wahrnehmung durch die Sinnesorgane)
  • Intuition (Wahrnehmung nicht völlig bewusster Inhalte)
  • Denken (unpersönliches Urteilen)
  • Fühlen (persönliches Urteilen)

 

„Je nachdem, ob eine der vier Grundfunktionen nach außen oder innen gerichtet ist, entsteht hieraus ein ganz bestimmter Beitrag zur Entscheidungsfindung.“

 

Ich habe nur einen Blick auf die in der Fußnote angegebene Website geworfen, ohne die Schriften dieses Psychoanalytikers zu kennen. 

 

Rausgehen ist häufig attraktiver als lesen: Es zieht uns ins ‚Freie‘; wir sehnen uns danach, dem Gedankendickicht mit seinem Für und Wider zu entkommen …

 

Vor einigen Tagen habe ich auf der Website einer Naturpädagogin einige Sätze gelesen, die ich hier zitieren möchte, weil sie den ‚Abkürzungscharakter‘, den die Natur uns bietet, so treffend beschreiben:

 

„Die Natur erlebe ich als einen Raum, der uns zu uns zurück bringt, uns über sinnliche Erfahrungen Glück erleben lässt. Sie ist Kraftquelle, spendet Entspannung, Trost, Geborgenheit und Inspiration. Hier komme ich zur Ruhe, kann bei mir sein, fühle mich wohl und klar. So stimme ich mit John Muir überein, ‚dass das Nach-Draußen-Gehen eigentlich ein Nach-Innen-gehen‘ ist.

 

Wenn ich mit Kindern arbeite, erlebe ich unmittelbar, wie wohl es ihnen tut, Handys und PC hinter sich zu lassen, in den Wald einzutauchen und ganz im Hier und Jetzt sein zu können. Begeisterung und Staunen erfasst sie wieder, sie entdecken ihre Umwelt und sind ganz präsent. Diese kindliche Begeisterung und Unbeschwertheit erfüllt mich dann jedes Mal selbst und steckt mich an.“2

 

Aufmerksamkeit ist gezielte Wahrnehmung. Introversion bedeutet also Lenken der Aufmerksamkeit nach innen, beispielsweise um die Inhalte der Intuition deutlicher wahrnehmen zu können. Die zunächst nach außen gerichtete Tastempfindung kann sich in meinem Bewusstsein mit der Intuition zu einer ‚kontemplativen Erfahrung‘ verbinden.

Ein Wikipedia-Artikel definiert wie folgt: „Aufmerksamkeit ist die Zuweisung von (beschränkten) Bewusstseinsressourcen auf Bewusstseinsinhalte. Das können z. B. Wahrnehmungen der Umwelt oder des eigenen Verhaltens und Handelns sein, aber auch Gedanken und Gefühle.“3


 


Die Samen-Frucht der Kapuzinerkresse fällt mir in die Hand …


Ein Versuch, DAS in Worte zu fassen, kann unternommen werden, aber klingt es nicht viel zu kompliziert?


Die Ente-Entscheidung als ‚Stimmigkeit des Augenblicks‘, eines ‚harmonischen Einsseins‘ meiner Innenwelt mit der Außenwelt (dem ‚situativen Kontext‘ der Pflanze, mit der ich ‚kommuniziere‘), findet ihren Ausdruck darin, dass ein Pflückverhalten nur dann eintritt, wenn kein Widerstand vorhanden ist: Gewaltlosigkeit nach außen wie auch nach innen. (Mein nach außen gerichtetes Gewahrsein empfindet über den Tastsinn keine Übertragung meiner Kraft über den Stängel auf die Pflanze oder gar auf das Rankgitter und dessen Befestigung an der Wand. Meine nach innen gerichtete Aufmerksamkeit nimmt keine subtilen Widerstände aus den ‚Regionen‘ „nicht völlig bewusster Inhalte“ wahr.)


Ende Mai hatte ich Kapuzinerkresse in einen kleinen Blumenkasten gesät. Dieser Tage fand ich auf dem Balkonfußboden die ersten Samen: Sie waren ohne mein Zutun abgefallen. 


Heute schaue ich genauer auf die ehemaligen Blütenstängel, an denen jetzt kapernartige Früchte zu sehen sind: Meist finde ich dort drei Samen, jeweils am Stielende gewachsen; mal kleiner, mal größer. Mehr und mehr komme ich zur Ruhe, bin ganz präsent in der Wahrnehmung dessen, was sich meinen Sinnen präsentiert. Vereinzelt hängen eingetrocknete Blütenblätter zwischen den Stängeln und den Samen. Sie sind dunkler als die Blüten. 


Im JETZT: Der Glücksmoment des ‚Ich-bin-da‘. An diesem Herz-Ort unbeschreiblicher STILLE ruht meine Aufmerksamkeit endlich aus von all den Reisen, auf die sie sich schon schicken ließ. Ohne Vorstellung, ohne Druck, ohne Angst ist sie HIER angekommen und will einfach nur bleiben – wie ein kleines Kind in den Armen von Vater und Mutter. Jetzt, in der Erfahrung der stillen Gegenwart, mit der meine Aufmerksamkeit sich unendlich dankbar rückverbindet: Wo ist hier ‚außen‘ oder ‚innen‘? (Was ‚Weinstock‘ und was ‚Rebzweig‘?)


Im Kraftfeld dieser Einen Harmonie können alle ‚Unstimmigkeiten‘ wieder heilen …




Karin Lühr| Autorin | Am Mühlenbach 5 | 38667 Bad Harzburg

Tel. 05322 559414 | info@karin-luehr.de | www.karin-luehr.de


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