Der Monat Juli neigt sich dem Ende zu. Für den ein oder anderen ist es ein Urlaubs- oder sogar ein Reisemonat gewesen. Auch mich hat in den vergangenen Wochen immer wieder eine Reise beschäftigt. Genauer gesagt, ein Reisetag.
Vor ungefähr einem Jahr habe ich ihn erstmals erzählt bekommen, neben einigen anderen Geschehnissen und Gegebenheiten aus einer Vita. Diese Mitteilung in vertrauensvoller Atmosphäre ergab sich relativ unvermittelt und berührte mich. Spontan reagierte ich darauf mit der Idee, dass dieser 1. April 1958, an welchem jene Reise ins Tessin stattfand, mir bei einem erneuten (nunmehr geplanten) Zusammentreffen nochmals im wahrsten Sinne des Wortes ‚auseinandergelegt‘ würde: Gerne wollte ich diesen Reisebericht schriftlich festhalten, konservieren – für weitere Hörer oder vielmehr Leser.
Dazu neigend, immer und überall wunderbare Fügungen und Führungen zu sehen, hatte es mich stark beeindruckt, wie alles so gut ausgegangen war. Aber ich wollte von meinem eigenen ersten Eindruck gleichzeitig auch absehen. Daher fragte ich die Erzählende im vergangenen Sommer sehr direkt, was sie denn gedacht und gefühlt hätte, als sie spät abends, nach vielen Reisestunden schlussendlich an ihrem Ziel angekommen, ganz müde im Bett lag … Die Antwort der 81-jährigen zierlichen Frau lautete, dass sie ein bisschen stolz auf sich gewesen wäre, wie sie das mit ihren 17 Jahren trotz aller aufgetretenen Schwierigkeiten geschafft hätte … Ihre Antwort konnte ich mitempfinden; sie war so wahrhaftig und ‚federleicht‘.
Meinem Vorschlag, ihre „Reise nach Moscia“ aufzuschreiben, hat Frau B. zugestimmt. Bei unserem zweiten Treffen, welches in diesem Jahr kurz vor Pfingsten stattfand, wurde im Gespräch deutlich, was aus ihrer Sicht dauerhaft lesenswert bleibt: Ihr damaliges Erleben, dass Menschen ansprechbar und freundlich waren und ‚Diensthabende‘ (wie z. B. Busfahrer oder Zollbeamte) ein offenes Ohr und eine hilfsbereite Hand hatten, wenn sie um Hilfe gebeten wurden. Deshalb herrschte ein zuversichtliches Grundgefühl in ihr vor. Sie fühlte sich sicher, obwohl sie allein ‚in der Fremde‘ unterwegs war. Ein paarmal sprach Frau B. von „früher“ oder „damals“ („damals, als man noch keine Angst haben musste …“), aber weniger im Sinne eines Vergleichens einer unter Umständen bedrohlicheren Gegenwart mit den „guten alten Zeiten“, die sie als Jugendliche erlebt hatte und die nun vergangen sind, sondern vielmehr als Ausdruck ihres Wunsches, dass es auch weiterhin – in der heutigen Welt und zukünftig – so sein möge!
In diesem Zusammenhang kommt mir wieder die Erinnerung an einige entscheidende Minuten während einer Rückreise aus England. Ich war 14 oder 15, und meine Gastgeber in Leeds hatten mich zum dortigen Bahnhof gebracht. Auf der Zugfahrt nach London-Heathrow gab es wolkenbruchähnliche Regenfälle. Der Zug bekam zunehmend Verspätung, und ich war natürlich sehr angespannt, weil ich befürchten musste, meinen Flug zu verpassen. Als ich ausstieg, schien das mehr als wahrscheinlich, denn zwischen dem Bahnsteig, wo mein Zug gehalten hatte, und dem Abflugterminal lag ein für mich völlig unübersehbares unbekanntes Flughafengelände. Die Eindrücke sind im Gedächtnis schon etwas verblasst, aber es war wohl so, dass ich erst einmal einige Augenblicke wie gelähmt dastand angesichts der Fülle an Wegweisern und Übersichtstafeln. Dann sprach ich ohne nachzudenken einen Mann an. Es war vermutlich ein Engländer beziehungsweise auf jeden Fall jemand mit voller Ortskenntnis, der im Bruchteil einer Sekunde meinen Koffer übernahm und im schnellen Laufschritt mit klarer Orientierung durch das Flughafengelände navigierte: Mein ‚Engel‘, dem ich im Dauerlauf immer hinterherrannte. Wir redeten kein einziges Wort. Mehr oder weniger in dem Moment, als die Gangway hochgezogen werden sollte, managte er meinen Zutritt … Meine Großmutter nahm mich später auf dem Flughafen in Berlin-Tegel in Empfang. (Zur Verdeutlichung: Es war noch im Zeitalter vor der Erfindung des Smartphones …)
Zurück zur Reise von Frau B., die ungefähr 20 Jahre vorher stattfand. Ihr Reiseziel habe ich ja schon verraten: Ein kleiner Ort namens Moscia im Schweizer Kanton Tessin. Er befindet sich in der Nähe von Ascona, das bei Locarno liegt. Ausgangspunkt war Berlin. Und der Grund der Reise? Kein Urlaubsausflug oder Besuch bei im Ausland lebenden Verwandten und Bekannten, sondern eine lange Bus- und Zugfahrt (inklusive diverser Umsteigeaktivitäten), um eine Anstellung in einem Hotel am Lago Maggiore anzutreten!
Das Aufwachen und Aufstehen in der neuen Umgebung am Morgen nach der Reise ist auch Bestandteil des Berichtens und von der emotionalen Dichte nach meinem Empfinden für den Zuhörer ein Höhepunkt. Eigentlich gehört noch der ganze Vormittag des darauffolgenden Tages dazu, wie mir in diesem Augenblick auffällt. Während unserer mehrstündigen Zusammenkunft Ende Mai, als ich ihre Reisegeschichte zum zweiten Mal hörte, erzählte Frau B. noch vieles mehr, aber das Aufschreiben sollte verabredungsgemäß auf diese Reise beschränkt bleiben.
Mir wurde deutlich, dass es ungefähr acht Wochen nach diesem Reisetag, nämlich als Frau B. mit ihrer Freundin vom Lago Maggiore wieder abreiste, bereits einen Menschen gab, der ihr nicht nur sehr genau zugehört, sondern auch eine ganze Reihe von Fragen gestellt hat. Er war nicht der erste, dem sie die Begebenheiten vermittelte; die „italienische Mama“ im Hotel hat beim Empfang bestimmt einige Worte über den Reiseverlauf vernommen und dann am nächsten Vormittag sicherlich die nachgereiste Freundin. Später hörten höchstwahrscheinlich auch andere junge Leute aus Deutschland zu, die in den umliegenden Hotels Arbeit gefunden hatten und sich am Sonntag (dem einzigen freien Tag) in Ascona regelmäßig trafen und austauschten. Möglicherweise zeigte er als Ohrenzeuge jedoch das meiste Interesse.
Weil ich vereinbart habe, dass ich diesen biografischen Kurzausschnitt in weitestgehend anonymisierter Form anderen Menschen zugänglich mache, wird der Name der Protagonistin, Hauptfigur oder Heldin nicht veröffentlicht. Mit dem Kürzel „Frau B Punkt“ hätte ich mich niemals dauerhaft anfreunden können und habe somit fast unwillkürlich und in künstlerischer Freiheit nach einem Namen für sie gesucht. Relativ schnell ist in mir auch etwas Entsprechendes aufgetaucht, und weil er meinem Gefühl nach wirklich passt, bleibt der Vorname, den ich in mir entdeckt habe, nunmehr nicht ausschließlich in meiner Innenwelt verborgen. Er lautet Larelind und IST es ganz einfach, weil er den Lago Maggiore und dessen linde (lichte, milde) Atmosphäre umfasst. (Als Anmerkung am Rande: Meine Internet-Suchmaschine zeigt kein Ergebnis an, wenn ich diesen Namen eingebe …!)
Sehr wahrscheinlich hat auch dieser große lange See (auf Deutsch: der „Langensee“) viele unterschiedliche Gesichter, je nach Tages- und Jahreszeit – und natürlich abhängig von der jeweils vorherrschenden Wetterlage. Hier orientiere ich mich aber an den beschreibenden Worten von Larelind, wie ich die Hauptperson fortan nennen will. Wie gesagt, gegenwärtig unter unvollständigem Initialen-Gebrauch von „Frau B.“ zu sprechen, erscheint mir genauso unangebracht wie die Wortwahl „ältere Dame“ oder andere theoretisch vorstellbare, aber im Grunde unaussprechliche Umschreibungen („die ihrerzeit Reisende“ beispielsweise). Da ich keine Romangestalt erfunden habe, aber meiner betagteren Zeitgenossin bislang im Wesentlichen nur zweimal ausführlicher begegnet bin, wäre der durchgängige Gebrauch eines Vornamens gewiss allzu vertraut. Gleich an dieser Stelle sei deshalb erwähnt, dass ich für sie (inspiriert vom Klang des lang gesprochenen „B“) auch einen Nachnamen gefunden habe: Frau (Larelind) Bée.
Ja: Sie staunt in der mein Hören begleitenden bildlichen Vorstellung ganz ergriffen mit vom staunenden „Ohhh …“ geöffneten Mund, als sich der Blick (nach Wegklappen der Fensterläden oder Hochziehen der Jalousie – sie sprach von „Lamellen“) vor ihr so überraschend aus der Höhe des Stockwerks eröffnet … Das französische Verb „béer“, wohl eher im literarischen als im umgangssprachlichen Gebrauch (und eventuell heutzutage seltener gebräuchlich?) bezeichnet genau dieses. In der 3. Person weiblich, im Präsens konjugiert: „Elle bée“, angesichts einer überwältigenden Schönheit der vor ihr liegenden Landschaft …
Womit ich wieder zurückgefunden habe vom ‚Ausflug‘ meiner Namensgebung zu der von ihr direkt vor Ort wahrgenommenen und mir aus ihrer Erinnerung eindrücklich ausgemalten Landschaft und Atmosphäre:
Am 2. April 1958 sah sie im Vordergrund einige Palmen.
Dann den See selbst, sich weithin erstreckend im klar-smaragdgrünen Schimmer.
Im Hintergrund, das heißt hinter dem gegenüberliegenden Seeufer, ragten die Berge auf. (Waren sie [noch?] schneebedeckt? Ich habe leider nicht nachgefragt; diese Frage stelle ich mir selber erst jetzt.)
In ihrem Blickfeld vom geöffneten Fenster aus, angelehnt an ein Brüstungsgitter, woran sie sich festhielt, waren auch die Brissago-Inseln. Während der sogenannten „Zimmerstunde“, einer mittäglichen Rekreationszeit/Erholungspause von mindestens drei Stunden, habe sie am liebsten „auf den See geguckt“ und auch auf „die zwei Inseln im See“. Meine kartografische Internet-Recherche mit Detailsuche, auch im Satellitenbild-Modus, (Kurz-)Besuche auf für Touristen gestalteten Websites unter dem Stichwort „Isole di Brissago“: Eine Sammlung von bunten Eindrücken.
Auf der Leinwand des Bewusstseins zeigten sich einige Fantasiebilder, während ich dem Ausmalen von Erinnerungen meiner temperamentvollen und mit freudiger Ausstrahlung gesegneten Gesprächspartnerin Aufmerksamkeit schenkte. Einige Zeit später ‚schärfte‘ (oder ‚fütterte‘?) ich meine Vorstellungskraft nachträglich durch eine etwas ausgedehntere Bildersuche im Internetbrowser. Hier das bei Pexels1 gefundene und somit frei verfügbare Bild, welches dem, was die an ihrem Zielort angekommene Reisende gesehen und innerlich erlebt hat, am nächsten zu liegen scheint: