Bestandsaufnahmen - Autorin Karin Lühr - Newsletter Juni 2023

Bestandsaufnahmen - Autorin Karin Lühr - Newsletter Juni 2023

Bestandsaufnahmen

Vor zehn Tagen, bei einem Spaziergang, traf ich zufällig jemanden, mit dem ich vor circa eineinhalb Jahren zufällig zehn Minuten in einer Warteschlange verbracht hatte. Der Kernpunkt unseres kleinen Austauschs war möglicherweise Folgendes: Auf die Aussage „Es muss doch erstmal eine Bestandsaufnahme gemacht werden…“ hatte ich (bejahend) spontan geantwortet, dass dafür ein Schritt zurück in eine Beobachterposition erforderlich wäre – weg vom brisanten Handlungsschauplatz.

 

Wie entscheidend das ist, wurde mir dieser Tage deutlich an zwei Nachrichtenmeldungen. Die erstere, aus dem lokalen Umfeld1, berichtete am 28.05.2023 von einem Schockanruf: „Betrüger haben einem Senioren-Ehepaar aus St. Andreasberg Gold im Wert von 186.000 Euro abgenommen.“ Die Kriminellen erzählten ihren Opfern, dass die Tochter der beiden einen schweren Autounfall verursacht habe, und nun ins Gefängnis müsse… 

 

Wir lesen immer wieder über ähnliche Fälle von Telefon-Betrug, und in die Artikel sind stets konkrete Ratschläge von Seiten der Polizei eingearbeitet, die davor warnt, sich unter Druck setzen zu lassen: „Meistens […] würden die Angerufenen permanent am Telefon ‚festgehalten‘, um zu verhindern, dass sie mit anderen Personen Kontakt aufnehmen. Deshalb sollten die Angerufenen darauf bestehen, die Telefongespräche zu unterbrechen, um die Möglichkeit zu haben Rücksprachen zu tätigen.“

 

Gesprächsunterbrechung und Rücksprachen sind Not-wendig, was in anderen Worten heißt, vom Ort des Geschehens (der in diesem Fall zunächst nur ein innerlicher ist) zurückzutreten. Der gewaltsam- überraschende Aufprall und die Wirkmächtigkeit des ‚Bombeneinschlags‘ einer derartigen Hiobsbotschaft ist für jeden nachvollziehbar. Bereits davon zu lesen, wie familiäre Liebesbande von Verbrechern trickreich ausgenutzt werden, greift emotional gewaltig an. 

 

Ohne Distanz zum Vorfall gewinnen, und wenn es nur für einen Augenblick wäre, kann ein folgenreiches Desaster von eigenen Reflexhandlungen nicht abgewendet werden. Weil Autodistanz im Schockzustand erschwert bis fast unmöglich ist, kann Abhilfe unter Umständen nur durch einen Außenstehenden geleistet werden, der (auf seinem Beobachterposten geschult oder erfahren) zu einer aus der Ferne objektiveren Bestandsaufnahme in der Lage ist.


Karin Lühr - Autorin und Schriftstellerin aus Bad Harzburg

Aufklärung dient dem Ziel, der ‚Unfähigkeit zur Unterbrechung‘ vorzubeugen, weil eine potentielle Gefahr dann eher kognitiv erfasst werden kann, und Strategien im Vorfeld vermittelt und erlernt wurden. Ohne tiefergehende psychologische Kenntnisse zu besitzen, sage ich mir: Klar, wenn der natürliche Fluchtinstinkt (z.B. den Telefonhörer sofort aufzulegen!) nicht greift, weil ein anderer Instinkt überwiegt (z.B. ‚Brutpflege‘ durch das Auslösewort ‚Tochter‘…), oder ein Schockgeschehen sich komplex in der Körper-Seele-Geist-Einheit auszuwirken beginnt, ist es hilfreich (definitiv theoretisch), wenn wenigstens in der ersten Minute kein ‚Überrumpelungseffekt‘ einsetzt, sondern man einigermaßen vorbereitet ist.

 

Es ist unstrittig (und wird gegebenenfalls manipulativ ausgenutzt), dass Menschen, die unter Zeitdruck stehen, in ihrem Unterscheidungs- und Urteilsvermögen beeinträchtigt sein können. 

 

Beim Lesen der anderen Nachricht2 habe ich bemerkt, dass ich unwillkürlich eine Verbindungslinie ziehe zwischen dem, was jeweils völlig unabhängig voneinander journalistisch auf den Punkt gebracht wurde:

 

Tagesschau.de betitelt am 07.06.2023 eine Abhandlung mit „Medizin im Hamsterrad“; die zweite Überschrift lautet „Ärzte unter Zeitdruck“. Nachfolgend nur ein kurzes Zitat daraus: „Wenn mit Patientinnen und Patienten in einer Praxis nicht richtig gesprochen wird, kann das schwerwiegende Folgen haben: Erkrankungen werden übersehen, Therapieempfehlungen nicht richtig umgesetzt. Millionen Deutsche beklagen Zeitmangel beim Arzt.“ 

 

Diese Beschreibung leuchtet ein, und kann sich aus allen denkbaren Perspektiven nachvollziehen lassen (aus der des Patienten, aber auch aus der Sichtweise des Arztes, und beispielsweise ebenfalls aus der ‚Vogelschau‘ der Autorinnen, die unter anderem über Gesetzesvorhaben des amtierenden Gesundheitsministers referieren). 

 

Bei einer Bestandsaufnahme sollte nicht vergessen werden, unter welchen Druck ein Arzt geraten kann, wenn es um die Implementierung von kurzfristig erlassenen Vorschriften in den Praxisablauf und sein alltägliches berufliches Handeln geht. Hat er überhaupt noch die Zeit dafür, etwas Abstand zu gewinnen, und sich (zumindest kurz und immer wieder) innerlich dort aufzustellen, wo ein unbeteiligter (unparteiischer) Beobachter seinen Standort hat? Kann er sozusagen ‚im Zeugenstand‘ seine eigenen authentischen Befunde bei der Betrachtung von Geschehnissen und Entwicklungen erheben und auswerten, ohne dass ihm eine ‚Pistole‘ auf der Brust sitzt? Für die „Rücksprache“ (mit anderen Menschen, Gott oder sich selbst) braucht es einen Rückzug vom Handlungsort. Bei extremem Zeitdruck können nur noch Instinkte retten, aber davon gibt es beim Menschen mehrere, und welcher die Handlung gesteuert hat, wird vielleicht erst in der Rückschau erkennbar.

 

[Eine sich daraus ergebende Frage, die ich aber jetzt nicht vertiefen will, wäre: Von welchen Sanktionen werden Menschen getroffen, die aufgrund von eigenen Bestandsaufnahmen sowie von Rücksprachen / Austausch eine Gewissensentscheidung treffen?]

 

 

Die Polizei rät dringend zur Unterbrechung von Telefongesprächen, wie oben zitiert. Ein Cut als bewusst eingelegte Besinnungspause oder infolge eines durch unbewusst ausgelösten Fluchttrieb eintretendes Verhalten: In jedem Fall wird Abstand geschaffen. Auf die ‚Gesundheitsversorgung‘ der Bevölkerung bezogen, wirkt sich sowohl ‚Auszeit‘ als auch ‚Abwanderung‘ aus.

 

Übermäßigen Zeitdruck zu vermindern, ist fraglos ein Schritt in die richtige Richtung. Ob neue ‚Rahmenbedingungen‘ es dem einzelnen erleichtern werden, regelmäßige Bestandsaufnahme zu machen? Leidensdruck ist eine Hilfe, unverzüglich ins ‚Zeugenbewusstsein‘ zu switchen, ohne Veränderungen zu erwarten, und damit ändert sich die Perspektive. Da es immer auf die Perspektive ankommt, sieht nichts mehr so aus wie vorher… 

 

Einen Erzähltext, den ich dieser Tage geschrieben habe, möchte ich vor dem Veröffentlichen mit neutraler Distanz (wie unbeteiligt) noch einige Male gegenlesen. Dem Inhalt, den ich als Autorin in Worte gefasst habe, stelle ich mich möglichst ohne allzu großen Zeitdruck gegenüber, indem ich an dem ‚Ort‘ in mir verweile, der still ist. (Das unterscheidet sich vom Hören auf die Attacken meines ‚inneren Kritikers‘...) Volker Tiete, dem ich für die einfühlsame Erstellung meiner Website sehr dankbar bin, wird auch bei diesem Juni-Newsletter, nachdem er ihn formatiert und mir per E-Mail geschickt hat, wieder rückfragen, ob ich diesen so ‚freigebe‘. Wahrscheinlich kennt jeder auf seine Art die Erfahrung, dass wir erst innerlich, uns selbst gegenüber, etwas ‚freigeben‘ müssen, bevor wir durch ‚Editieren‘ in einem zweiten Schritt etwas Heraus-Geben. 

 

Frei-Gabe beinhaltet die Freiheit, in keiner Weise unter Druck zu stehen – etwas ist nur dann eine freie Gabe. Frei geben heißt auch, nichts zu erwarten, was letztlich bedeutet, den Empfänger komplett frei zu lassen von manipulativem Druck.

 

Um sich inneren oder äußeren Zwängen bewusst zu entziehen, wird Frei-Raum benötigt: Jene Gewohnheitsreflex-unterbrechende Zeit für den Schritt, der Abstand schafft, und für eine Form von Dialog, wozu auch die ‚Zwiesprache‘ mit der Stille gehört (ein schweigender Blick in den wortlosen Spiegel).

 

Wie im Mai-Newsletter beschrieben, beschäftige ich mich momentan ein wenig mit der Heilpflanze „Mutterkraut“ (Tanacetum parthenium) – insbesondere im Zusammenhang mit Möglichkeiten der Migräne-Prophylaxe. Bei meinen ‚Nachforschungen‘ in kleinem Umfang bin ich auf zwei Äußerungen gestoßen, die mich besonders berührt haben:

 

In ihrem Artikel „Der Geist der Pflanze heilt“3 schreibt Frau Dr. Moritz: „‘In Deutschland dominiert die Sichtweise, dass die Inhaltsstoffe einer Pflanze ihr heilkräftiges Element sind.‘ Diese meine Aussage in Gesprächen mit Menschen im peruanischen und kolumbianischen Amazonasgebiet löste einiges Lachen aus. Sie wurde für einen Scherz gehalten. Undenkbar schien es, dass wir fortschrittlichen Deutschen mit all unseren Errungenschaften solchen Glaubenssätzen anhängen würden.“

 

Beim Nachlesen über das Mutterkraut traf ich (wieder einmal) auf Hildegard von Bingen, und folgende Worte4 stammen von ihr:

 

„Wir müssen auf unsere Seelen hören,

wenn wir gesund werden wollen.

Letztlich sind wir hier,

weil es kein Entrinnen vor uns selbst gibt.

 

Solange der Mensch sich nicht selbst

in den Augen und im Herzen seiner Mitmenschen begegnet,

ist er auf der Flucht.

 

Solange er nicht zulässt,

dass seine Mitmenschen an seinem Innersten teilhaben,

gibt es keine Geborgenheit.

 

Solange er sich fürchtet durchschaut zu werden,

kann er weder sich selbst noch andere erkennen,

er wird allein sein.

 

‚Alles ist mit Allem verbunden.‘ “




Karin Lühr| Autorin | Am Mühlenbach 5 | 38667 Bad Harzburg

Tel. 05322 559414 | info@karin-luehr.de | www.karin-luehr.de


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