Das weiße Blatt hochhalten |
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Geht das überhaupt noch?
Ist es weiterhin durchgängig beizubehaltende Praxis, von nun an hauptsächlich in Ausnahmefällen vertretbar, oder ab sofort bloß noch gestrig, geradezu komplett zeitwidrig? Nur Notizblock und Stift als Werkzeuge verfügbar; gegebenenfalls der Laptop mit einer neuen Seite des installierten Textverarbeitungsprogramms, dem Wortwerker weiß und leer gegenüber – ohne verheißungsvoll-profitable Nutzung einer generativen Textmaschine der KI?
Ähnlich, wie ein Spiegel sich dem Blick anbietet, so folge ich der Einladung, und schaue auf ein Blatt Papier. Gänzlich unbeschrieben liegt es vor mir. Ich sitze, und komme mehr und mehr an.
Mein Platz ist jetzt hier; hier und jetzt. In Ruhe lasse ich die weiße Fläche auf mich wirken; ein Vis-à-Vis der Formlosigkeit sieht mich an. Ob Briefbogen oder Bildschirm-Dokument: Diese Schneewüste, noch gänzlich unbevölkert von Worten, unvoreingenommen und unbesetzt von sprachlichen Inhalten oder Bildern, ist meine größte Hilfe beim Beginnen. Ich schließe kurz die Augen, um in mir den Ort zu finden: Das Land des Nichts – Raum der Leere und Fülle zugleich…
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Persönliche Absichten und Zielvorstellungen, mit denen ich gekommen bin, werden von selber bedeutungslos; das, was ich mitgebracht habe, verblasst. Das Eigenschafts-Volle kann ich nicht abschütteln, vermag mich seinem Andrang nicht zu entledigen mittels Gewalt. Doch ich erfahre, wie all dies aus dem Blickfeld schwindet durch die Wende der Nicht-Identifizierung mit dem Gesehenen. Dem Lauten wird meine Aufmerksamkeit sanft entzogen; die Anziehungskraft einer mächtigen Stille holt meine Wahrnehmung nach Hause. Befreiend ist es, und unbeschreiblich. Hellwaches Ruhen, Geistesgegenwart. Ich-bin-Gewahrsein ohne Inhalt, ohne Form. Schauen als das, was ist.
Die Augen zu öffnen, macht nun keinen Unterschied. Nach ‚innen‘ schauen, und (von dort / als Das) gleichzeitig sehen das, was ‚draußen‘ ist… ---
Doch schon ziehen am Bewusstseinshimmel neue Wolken auf: Gedankenfragen drängeln sich, bedrängen mich…
Die blanke Klarheit einer farblosen Fläche, dieses ‚Vor-meinen-Augen‘ ohne Worte - ist es tatsächlich ein neues Feld der unbegrenzten Möglichkeiten? Welches auf diese Weise, als potentieller Ausdruck, noch weiß und ohne kreative Prägung vor mir liegt? Oder werde ich ver-sagen??
Maschinell, auf Knopfdruck geradezu: Wäre dies nicht schnell erreichbar – und ein Chat-Bot würde (smart) zu meinem „virtuellen Diener“1 werden?
Ich höre die Worte, die Rilke seinen Dichter sprechen lässt2:
„Ich will nur sieben Tage, sieben,
auf die sich keiner noch geschrieben,
sieben Seiten Einsamkeit.“
Ihr altvertrauter Klang: „Gib mir noch eine kleine Weile Zeit…“
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Doch bange Zweifel und körperliche Anspannung machen sich weiterhin recht unangenehm bemerkbar. Neben mir auf dem Tisch einige beschriebene Zettel. Nein! Später vielleicht, gleich…; nicht jetzt! Noch für einige Augenblicke halte ich es aus, mich nicht reflexartig und gewohnheitsmäßig festzuhalten an den zahlreichen Ideen, die mir kürzlich gekommen sind, und von denen ich einige stichpunktartig als Gedankenstützen fixiert habe. Alle Anhaltspunkte lasse ich jetzt bewusst los: Nichts behalten von dem, was gedanklich bereits entstanden ist – mehr oder weniger in Grobform in zurückliegenden Stunden begrifflich zusammengefügt, um perspektivisch dann, wenn die Zeit dafür gekommen ist, etwas feiner geschliffen zu werden. Wurde denn sprachlich tatsächlich schon etwas geschaffen, im schöpferischen Sinne gestaltet, oder sind Wortzusammenhänge einfach nur momentartig aufgetaucht – und wären alsbald wieder verschwunden gewesen, wenn ich sie nicht notizartig niedergeschrieben hätte, um etwas daraus zu machen? Und: Welche Intentionen haften einem solchen ‚Machen‘ an? Lehne ich mich zu weit aus dem Fenster mit meinen Aussagen vom Nicht-Anhaften, weil Verdruss sofort reaktiv aufkommt, sobald ein Speicher- oder sonstiger Fehler zu Textverlust geführt hat? Stimmt das, was ich eben sage, überhaupt? Das ist wahr: Meine kleine Irritation, als vor ein paar Minuten ein digitaler (Mini-)Gau geschah, habe ich deutlich wahrgenommen.
Hier und jetzt bleibe ich einfach da. Vielfältige Gedanken und Emotionen tauchen auf, aber ich folge ihnen nicht. Es ist keine monotone Sammlungsübung, keine mechanisch ausgeführte Technik eines Sich-Zurückholens, sondern eher ein ganz natürliches Nachgeben diesem mächtiger gewordenen Urbedürfnis nach Stille, das stärker geworden ist, als der Ruf der Ablenkungen.
Irgendwann fange ich an, das Word-Dokument mit Sätzen zu füllen. Meine Vorbereitungen bezogen sich auf einige Aspekte zum Thema Schmerz, und nun stelle nach einer Weile fest, dass ich schreibend über etwas anderes nachdenke. Natürlich: Ich selber positioniere meine Worte und formuliere die Sätze; korrigiere, pausiere, verändere, verwerfe und lösche. Ich fahre fort, oder setze bewusst neu an, und gerate nicht dermaßen unwillkürlich in ein Fahrwasser, dass ich dann selber staune, wo ich überhaupt unterwegs und zufällig gelandet bin… Und doch gibt es beim Schreiben stets einen gewissen Überraschungseffekt, der zu konstatieren ist. Auf bestimmte Art ist es schön, mit Autodistanz selber zu beobachten, was sich letztendlich ergibt. Es entspannt, und entwaffnet den inneren Kritiker, wenn er zur Attacke ansetzt. Es ist gut, sich nicht sklavisch an die eigenen Vorhaben zu binden, und sie am Anfang bewusst zu vergessen. Dem Zu-Fall eine Chance zu geben. Der Leere zu vertrauen…
Also: Wie ich merke, vertiefe ich mich gerade gedanklich in etwas, das ich bis jetzt ausschließlich vom Hörensagen kenne: Die Meldungen zum Thema ChatGPT haben sich in den vergangenen Wochen in meinen Ohren auffällig gehäuft. Es scheint Fakt zu sein, dass neuen Programmen der Künstlichen Intelligenz alle nur denkbaren Fragen gestellt werden können, die diese Bots wie ein Gegenüber in Textform ausführlich beantworten. Je nach Aufforderung erledigt ein Chatprogramm einen spezifischen sprachlichen Auftrag.
Statt mich zu bitten, einen Gelegenheitstext zu entwerfen, hätte die Bekannte, die mich vor Ostern gefragt hat, ob ich mich um ihr Anliegen kümmern will, auch mit einem Dialogsystem auf ihrem PC kommunizieren können. Sehr schade wäre das gewesen, finde ich, denn wir hatten so gute Begegnungen, und es hat mir viel Freude gemacht. (Und im Anschluss habe ich auch eine Rechnung schreiben können. Das gehörte dazu.)
Betrifft mich diese revolutionäre Erfindung folglich als Autorin direkt? Sollte ich mehr in Erfahrung bringen? Denn noch weiß ich kaum etwas darüber…
Nach einigen spontanen Gedanken, die mittels Tastatur auf meinem Screen als Text lesbar werden, entscheide ich, mir erstmal einige Informationen dazu aus dem Internet zu holen. „Meet the Expert: Wissen aus erster Hand“ – so hat der Springer-Verlag eine Buchreihe genannt, und dieses Motto trifft es ja in etwa… Munter sehe ich mich einige Suchbegriffe eingeben, hier und da Erläuterungen überfliegen, um dann bei zwei kürzeren YouTube-Videos zu landen. Der Algorithmus hat vorsortiert, und im Nachgang wähle ich im Zufallsmodus, frei Hand, zwei Filmchen aus. Praktische Anwendungsmöglichkeiten von Chat-GPT beziehungsweise Chat4all (das Letztgenannte soll auch offline funktionieren, und zudem in einer kommerziell nutzbaren Version namens GPT-J verfügbar sein) werden von versierten Fachleuten dem interessierten Zuschauer im Schnelltempo demonstriert. Anscheinend oder scheinbar alles easy – das scheint echt gut zu funktionieren. Diese Darbietung reicht trotzdem nicht aus, mich zu einem neugierigen Download zu motivieren – auch wenn das Manko, es nicht selber ausprobiert zu haben, (vorerst) bleibt. Die Fantasie wendet ein: Es könnte unter Umständen ziemlich magisch sein, das zu lesen, was auf spezifischen Input hin von der Maschine ausgegeben wird. Als ersten Versuch: Ein Frühlingsgedicht! Fast sehe ich es bildlich vor mir, wie im Film. Als wahrscheinlicher jedoch erscheint in meiner Gedankenwelt die Reaktions-Variante einer herben Enttäuschung. Ich wäre ja nur durch „prompten“ beteiligt: Ein Konsument, eine Abhängige, die am Automaten wartet, bis er was ausspuckt. (Wie unpoetisch.)
Mein Überlegen hat reichlich Nahrung bekommen, und ich erinnere mich daran, dass ich Anfang April einen Artikel3 gelesen habe, der belegt: Kreatives Denken lässt sich fördern. Zur positiven Beeinflussung der Fähigkeit, begrifflich zu assoziieren und neue Ideen hervorzubringen, kann auf geeignete Maßnahmen zurückgegriffen werden. Eine diesbezügliche Meta-Studie besagt, dass sich unter anderem „Meditation“ als effektiv erwiesen habe. Das finde ich sehr interessant! Und schon arbeitet der Verstand auf Hochtouren. Was ist hier mit ‚Meditation‘ gemeint? ‚Leer‘ werden, absichtslos? Und: Wie das ‚Nicht-Machen‘ machen? Ich stelle meiner Suchmaschine diese Frage, und finde unter anderem ein Kurzvideo dazu4.
Etwas (zu sehr) rationalisierend, schreibe ich spontan: Diesen oder ähnlichen Fragen intensiver nachzugehen, und diverse Antworten darauf zu hören, kann klären, aber andererseits auch ablenken oder gar verwirren. Es würde in jedem Fall Zeit erfordern, indem es mich auf eine projizierte, völlig ungewisse gedankliche Zukunftsreise schickt: Irgendwann einmal werde ich es gelernt, eines Tages dann wirklich verstanden haben…
Cut!
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Zurück. Jetzt zurück. War wieder ein kleiner diskursiver Ausflug, bis ich es gemerkt habe. Bis mir bewusst wird, dass ich mich verloren habe im Nicht-Jetzt. (Egal. Passiert. Nicht schlimm.) Hier. JETZT.
So, wie ich jetzt hier sitze, fokussiere ich meine Aufmerksamkeit im Inneren, im Herzen: Im Wahrnehmen der Wahrnehmung bleiben, als formloses Gewahr-Sein, als Da-Sein da sein…
Präsenz ohne Attribute. (So ähnlich, wie ein weißes leeres Blatt...)
Vom mentalen Druck befreit, immer noch mehr wissen zu müssen, und es stets doch noch nicht gut genug zu können, lasse ich mich überraschen, was sich zeigt: Ursprüngliches ungemachtes Vertrauen, dass das Nichts sich um Alles kümmert. FELS und QUELLE. Aus der Quelle schöpfen. Die Kraft des Weinstocks spüren, ohne an die Trauben zu denken. DAS in Worte fassen, ohne es dem Verstand zu geben. (Der stellt fest, macht ein Konzept daraus.) STILLE SEIN.
Der Beginn meiner Autoren-Tätigkeit war im Januar 2022. Gefühlt ist innerlich und äußerlich viel geschehen im vergangenen Jahr, aber die Buchhaltung hat, mit objektiver Distanz betrachtet, auf weniger als eine halbe Kassenbuch-Seite gepasst. Meine Steuererklärung habe ich längst abgegeben. Das Finanzamt schreibt in seinem Bescheid etwas von „vorläufig…“, „weil zurzeit die Gewinnerzielungsabsicht nicht abschließend beurteilt werden kann.“
Also mehr ‚Machen‘, Produzieren – um Geld zu verdienen? Aus Sorge, aus Angst, dass…? Wie jene Rebzweige, die befürchten…?5
In diese Situation kann ich mich durchaus einfühlen: Vor einem weißen Blatt sitzend die Feststellung zu treffen, dass nur „Blankness“ gefühlt wird… Ein Abgrund-leeres Weiß, praktisch gleichzusetzen mit Blackout (alles Schwarz), oder mit weißem und schwarzem Rauschen gemeinsam. Dichter Nebel im Kopf, Gedankenlärm. Totalausfall, Standbild, Blockierung. Einfach Panne: Irgendwie das alles zusammen und durcheinander, und nix geht mehr, obwohl es gehen muss. Muss!(?) Dieses Szenario (gar nicht so fiktiv) könnte durchaus bei entsprechendem Leidensdruck / Leistungsdruck dazu führen, nach einem (präventiv und proaktiv bereits absolvierten) AI-Crashkurs bei einer produktiven Anwendung Zuflucht zu suchen. (Wie bei einem Old-School-Ghostwriter, für den der Spickzettel in zurückliegenden Schultagen im Grunde sowas wie ein minimalistischer Ersatzbehelf war…)
Sich tagtäglich mehrende Informationen über ChatGPT sowie alternative Textgeneratoren, das Fordern von klaren Regeln bei der Nutzung, die politische Diskussion über Kennzeichnungspflicht für KI-Inhalte versus Verbotsbestrebungen – so viel ist festzustellen: Das Thema trendet derzeit, aber eher als Nebenschauplatz.
Bereits die Verwendung von Suchmaschinen bringt nahezu unendliche Ergebnislisten hervor, und hier gibt es die exakten Quellenangaben zu jedem Suchergebnis dazu! Natürlich ist es ein Unterschied, ob lediglich Informationen geliefert, oder nahezu gebrauchsfertig komponierte Wunschtexte von meinem Botty angedient werden. Nach einem maßgeschneiderten Optimierungs-Coaching durch die regionalen Schüler der global agierenden Programmierer, wie denn am meisten ‚herauszuholen‘ sei, beziehungsweise dem geduldigen Sammeln von Eigenerfahrungen, inklusive aller Rückschläge (Try and Error), sollte es doch laufen mit der Künstlichen Intelligenz. Wir sammeln die Erfahrungen, und letztere unsere Daten.
Egal, ob es fast unbemerkt suggeriert, als Fortschritt etikettiert, oder in sonst welcher Form promotet und als künftige Notwendigkeit propagiert wird: Will ich das überhaupt?
Nichts ist alternativlos. Nein zu sagen, bleibt immer eine Option!
Bei der Suche nach beispielhaften Textvorlagen (Mietvertrag, Kündigungs- oder Widerrufsschreiben, etc.) wurde ich schon in der Vergangenheit im Internet fündig, und habe dankbar darauf zurückgegriffen. Aber würde ich mir von einer programmierten Anwendung meinen sprachlichen Ausdruck nehmen lassen? Ich möchte nicht glatt und fehlerfrei formulieren, nur um irgendwo einen guten Eindruck zu hinterlassen, als ‚korrekt‘ zu gelten, oder einen materiellen Vorteil einzukassieren. Im Austausch freue mich über das schlichteste Wort, das von Herzen kommt, oder Sätze, die mir von einem Menschen ganz offen und wahrhaftig gesagt werden, weil sie – genau so und nicht anders – in dem Moment von ihm empfunden werden. Wenn ich mit Sprache, mit einem Text konfrontiert bin, sind das für mich nicht nur Worte, sondern ich spüre auch die Energie, die dahintersteht.
Zugegeben, ich bin für das Internet außerordentlich dankbar: Wie schnell ist ‚dort‘ eine Wortbedeutung nachgeschaut, eine umfassende Begriffserklärung gefunden. Engagierte Spezialisten meines Vertrauens haben Informationsmassen für mich vorgefiltert, die von mir nie zu bewältigen wären, und bei für mich wesentlichen Dingen kann und möchte ich nach allen Seiten hin recherchieren, um kontroverse Sichtweisen kennenzulernen und abzuwägen. Weit darüber hinaus: Manchmal springen auch im virtuellen Raum des WorldWideWeb Inspirationsfunken direkt über. Ich lese oder höre etwas, und habe das Empfinden: Das ist jetzt genau für mich. Genau DAS genau JETZT, just in time. Danke, danke, danke!
Die Vorteile einer Chatbot-Nutzung können dem Verstand in hellen Farben ausgemalt werden, und deren Nachteile ebenfalls sehr grell. Letztlich hat der Einzelne nur begrenzt Kontrolle über die Entwicklungen, aber als menschliche Gemeinschaft sind wir nicht machtlos. Was ich spüre, während ich diesen Text schreibe, ist mein individuelles Ablehnen dieses Angebotes – ohne mir dabei irgendeine Bewertung anzumaßen. Es erweckt zu diesem Zeitpunkt bei mir kein weitergehendes Interesse. Aber vielleicht ist mein Nein nur vorläufig. Es wird sich zeigen. Mehr als das Heute kenne ich nicht.
Heute halte ich das weiße Blatt hoch, verteidige es beharrlich.
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